Dictionnaire Étymologique de l'Ancien Français

Licht aus dem Mittelalter

«Weder Seele noch Gehirn der Menschen haben in historischer Zeit erweislich zugenommen, die Fähigkeiten waren längst komplett! Daher ist unsere Präsumption, im Zeitalter des sittlichen Fortschritts zu leben, höchst lächerlich, im Vergleiche mit riskierten Zeiten, deren freie Kraft des idealen Willens in hundert hochtürmige Kathedralen gen Himmel steigt.»
[Jacob Burckhardt, Weltgeschichtliche Betrachtungen]

Seit Jacob Burckhardt diese Aussage gemacht hat, sind rund 150 Jahre vergangen. Dennoch hält sich hartnäckig das Vorurteil vom finsteren Mittelalter. Die folgenden Beispiele sollen dies illustrieren und gleichzeitig zeigen, wie mittels Analyse mittelalterlicher Texte nicht nur sprachliche, sondern auch fach- und sachgeschichtliche Neubewertungen möglich sind.


Botanik

Abbildung einer Stachelbeere in der Bible moralisée ca. 1225
Interdisziplinarität im Circulus vitiosus:

Die Paläoethnobotanik datiert die Stachelbeere auf das 12. Jahrhundert. Das französische Wort für Stachelbeere (und Johannisbeere), groseille, wird von der Lexikographie ebenso datiert. Die Übereinstimmung schafft Vertrauen. Doch ergibt die Prüfung der Quellen, daß die Botaniker sich nicht auf Grabungen, Abbildungen und dergleichen stützten, sondern auf die Datierung des französischen Wortes groseille ! Ihr Datum, 12. Jh., ist also wertlos. Die Forschungen ergeben, daß das Wort vom 9. bis ins 12. Jahrhundert den Kreuzdorn bezeichnet, erst ab dem 13. Jahrhundert die Stachelbeere. Der DEAF nennt nebenbei die erste Abbildung eines Stachelbeerstrauches: Bible moralisée, Handschrift Wien 2554, ca. 1225, f°60v°b.


Astronomie

Was wir wissen:

«Im Abendland ist dagegen während der gleichen Zeit [d.h.im Mittelalter] so gut wie keine Entwicklung der Astronomie zu verzeichnen. Außerdem wurde die Erde längere Zeit wieder als Scheibe angesehen.» (dtv-Atlas zur Astronomie 15)

Diese Ansicht ist eine Wissenschaftslegende des 19. und 20. Jahrhunderts, die auch im 21. Jahrhundert weiterlebt.

Was uns das Mittelalter sagt:

Image du monde, Enzyklopädischer Text aus dem Jahre 1246 (Hs. Paris BN fr. 1548 f°14r°): homme qui va entour le monde (Begleittext zur Abbildung: Mensch, der um die Erde geht)

Introductoire d'Astronomie, Astronomietraktat aus dem Jahre 1270. Kap. IV 2: et por ce fu li mondes en tel globosité (= forme de pelote) criez reonz que ce est la forme qui plus apartient a parfection quar en reondesce n'a ne fin ne commencement. (Und so wurde die Erde mit der Eigenschaft des Globus (in der Form einer Kugel) rund erschaffen, da das die Form ist, die am meisten der Perfektion nahekommt, denn bei der Rundheit gibt es weder Anfang noch Ende.) [Ed. Stephen Dörr]

Abbildung eines Menschen, der um die Erde geht; aus Image du monde, 1246

Grammatik

Was wir wissen:

«On peut considérer qu'au commencement du XVIème siècle, il n'y a pas de grammaire française. » (C. Demaiziere, La grammaire française au XVIe siècle: Les grammairiens picards, Paris 1983, S.29)

Was uns das Mittelalter sagt:

Anfang der altfranzösischen Adaption der Ars minor von Donat (Hs. Berner Burgerbibliothek 439, f°76r°, 2. H. 13. Jh.):

Abbildung der Handschrift Berner Burgerbibliothek

Quantes parties d'orison sont? viii. etc. Li nons et li participes gouvernent et sont gouverné. Li pronons est gouvernés et si ne gouverne mie. (Wie viele Redeteile gibt es? Acht, usw. Nomen und Partizip regieren und werden regiert. Das Pronomen wird regiert und regiert selbst nicht. [Ed. Thomas Städtler])

Der Grand Larousse de la Langue Française (1973) Bd. 3, S. 2273b verzeichnet als ältesten Beleg für gouverner «regieren» in grammatikalischer Verwendung: 1757, Encyclopédie.


Mathematik

Was wir wissen:

«Außer punktuellen, oft zufälligen Vermittlungen läßt sich also auch auf dem Gebiet der Sachkultur nur eine triste Bilanz der europäischen Lernfähigkeiten ziehen», schreibt die FAZ am 4.11.1992 und konstatiert für das Mittelalter eine allgemeine «Ignoranz für die hochentwickelte arabische Mathematik».

Was uns das Mittelalter sagt:

Aus Jean de Murs Quadripartitorum numerorum aus dem Jahr 1343: Rursus multiplicavi radicem sextupli cuiusdam averis in radicem quintupli ejius et addidi decuplum ipsius averis et insuper numeros 20, et fuerint hec omnia sicut quadratum ipsius averis. Quantum est avere?

Als Gleichung umgesetzt ergibt das:

 6x  5x  + 10x + 20 = x2

Aus der Praktike de geometrie (3. Viertel 13. Jh.): Berechnung der Fläche eines Maximalkreises in einem gleichseitigen Dreieck mit einer Seitenlänge von 14 Fuß: Se tu fais .1. compas dedens le triangle si grant com tu pues, il tenra en soi .50. piés et le quart d'un pié et les 7esme du quart d'un pié.

Ergebnis: 50 2/7 Quadratfuß.


Medizin

Was wir wissen:

«Nach Galen [Ende 2. Jh.] werden keine anatomischen Untersuchungen mehr vorgenommen. Sektionen wurden wieder als abstoßend und grausam verurteilt sowie für unnötig befunden. Der christliche Glaube an die Wiederauferstehung des Fleisches mag den Widerstand gegen die Anatomie verstärkt haben. Das westliche Mittelalter hatte kaum Kenntnis von Galens anatomischen Schriften.» (Der Neue Pauly. Enzyklopädie der Antike, Anatomie [Vorabdruck 1996])

Was uns das Mittelalter sagt:

Die Beschreibung der von Mondino dei Luzzi und Niccolò Bertruccio in Bologna seit 1315 durchgeführten Leichensezierungen bei Gui de Chauliac ist klar genug: selon ce que traicte Mestre Dimus de Bolongne qui sur ce ha escript et ha fait la anathomie maintes fois. Et mon mestre, Mestre Bertuces, par ceste maniere il asseoit homme mort sur ung banc et en faisoit quatre lessons: les membres nutritifz, les membres espirituelz, les membres qui ont ame. En la quarte, il tratoit des extremités (nach Meister Dimus von Bologna, der darüber geschrieben hat und Leichensezierungen etliche Male durchgeführt hat. Mein Lehrer, Meister Bertuces, legte den toten Menschen auf eine Bank und erteilte daran vier Lektionen: die vom Blut und die vom Geist genährten Organe, die Organe, die eine Seele besitzen. In der vierten Stunde behandelte er die Extremitäten [Ed. Sabine Tittel].

Abbildung einer Leichensezierung aus einer medizinischen Handschrift, 2. Drittel 15. Jh.

Grande Chirurgie, Text aus dem Jahre 1370, Hs. Bibl. de la Faculté de Médecine de Montpellier n° H 184, 2. Drittel 15. Jh., f° 15v°.

Fazit

Die Vielfalt der Blickrichtungen und Beispiele kann ein Kaleidoskop in Erinnerung bringen. Schöne Einzelsteinchen purzeln durcheinander und ergeben immer wechselnde, reizvolle Bilder. Aber der Schein trügt. Der DEAF versteht sich nicht als Kaleidoskop, sondern als Mosaik. Jedes Steinchen ist mit größter wissenschaftlicher Präzision gefertigt, eines gleicht im Aufbau dem anderen. Es ist ein großes Puzzle, das sich zu einem Bild fügt, das einen lebendigen, historisch möglichst wahren Eindruck einer wichtigen Epoche Europas vermittelt. Die Wörterbuchstruktur des DEAF ist das Fenster, das den Blick auf das Mittelalter frei gibt.


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